Die stille Sehnsucht nach Offline-Zeit
Unsere Smartphones sind unsere täglichen Begleiter. Sie sind bei uns wenn wir ins Bett gehen, auf der Toilette, in der Küche, im Büro, im Bus. Es braucht keine “Wearables”, wir haben unser vermeintliches “Tor zur Welt” sowieso ständig dabei.
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Es gibt sie noch: MP3-Player. Bild KI generiert. |
Unter anderem wegen diesem merkwürdigen Verhalten der Spezies Mensch habe ich neulich auf einer Postkarte in einem Buchladen folgendes gelesen:
“Früher wussten wir noch, wo unser Telefon ist und nicht umgekehrt.”
Es ist zum Haare herausreißen. Wir, die Bewohner des “Westens”, leben ein furchtbar hektisches Leben. Wir versuchen immer und überall produktiv zu sein und wir freuen uns deswegen darüber, dass wir unsere Computer in der Hosentasche mit uns herum tragen können.
Aber welchen Preis zahlen wir dafür?
Wir Menschen können jederzeit produktiv sein.
Wir können uns jederzeit ablenken.
Wir werden jederzeit abgelenkt.
Und es wird von uns erwartet, jederzeit produktiv zu sein.
Es wird erwartet jederzeit erreichbar zu sein.
Nachrichten, auf welche zu lange nicht geantwortet wurde, werden zur potenziellen Ursache von Streit. Aber warum?
Warum haben wir diese Art zu leben für uns geschaffen?
Die Antwort, denke ich, ist den meisten klar: Profit.
Keine Sorge, dass hier wird kein Artikel der sich über irgendwelche dystopischen Techkonzerne aufregt, die uns Smartphones gegeben haben, um uns an diese Geräte zu binden und dadurch noch mehr Geld zu verdienen.
Auf diesen realen Aspekt von Smartphones möchte ich nicht hinaus. Sondern auf einen anderen, subtileren Einfluss von Smartphones auf unser Leben.
Die Tatsache, dass sie uns das Gefühl geben, dass wir in jeder Pause, jeden Moment produktiv sein könnten, was eine gewisse Grund-Nervosität erzeugt.
Langeweile wird zu “nicht produktiv sein”. Eine halbe Stunde rumsitzen und nichts tun? Wer greift da nicht nach ein paar Minuten zu seinem Handy?
Wir alle haben theoretisch ständig Dinge in unserem Alltag zu tun. Es gilt die Nachbarn darüber zu informieren, dass das Wasser abgestellt wird, oder den CD-Player für die Kinder zu kaufen, den sie bald zum Geburtstag kriegen sollen. Die E-Mail vom Amt zu beantworten. Einen Termin zu machen beim Zahnarzt und deswegen schnell dessen Webseite googeln. Es gibt unendlich viel zu tun.
Und unsere Smartphones befähigen uns dazu, jeder dieser Aufgaben nachzukommen.
Und vor allem: Alle diese Aufgaben nicht zu vergessen.
Warum sollten wir auf dem Balkon in unseren Stühlen sitzen und den Vögeln beim zwitschern zuhören und in die Ferne starren, wenn wir produktiv sein könnten?
Der Bus kommt in 5 Minuten: Am besten noch schnell die E-Mails checken und gegebenenfalls beantworten. Oder die Termine, die in Kurznachrichten an uns herangetragen wurden in den Kalender eintragen. Und wenn wir dabei sind den Kalender zu prüfen, können wir uns gleich einen Überblick über die kommende Woche verschaffen. Gibt es vorbereitende Dinge zu erledigen?
Kurz vor dem zu Bett gehen noch prüfen: Haben wir alle inneren Fragen beantwortet? Haben wir allen geschrieben, die es von uns erwarten? Und wie wird der nächste Tag sein? Welche To-dos stehen auf dieser Liste?
Wundervolle Themen, um einschlafen zu können. Nicht.
Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen dem schlechten Gewissen jetzt nichts zu tun und der Möglichkeit produktiv zu sein.
Dieses Leben hat einen Preis.
Wir können jederzeit unseren Aufgaben nachgehen, aber wann gehen wir Aufgaben nach, wie “sich um sich kümmern”? Oder ist das ein weiterer Eintrag auf unserer Liste und damit erledigt?
Wir fühlen uns gut, produktiv und erleichtert, wenn wir die Kontrolle über unser Leben haben. Aber haben wir die Kontrolle über unser Leben oder täuschen wir uns?
In den letzten Wochen gab es Stunden am Tag, in denen ich ohne Smartphone mit einem MP3-Player ausgestattet über die Felder gelaufen bin und mir zuerst ein Buch angehört habe, und anschließend ein neues Album einer Band die mir gefällt gehört habe. Ich habe die Zeit einfach genutzt, um meine Augen über die Felder schweifen zu lassen. Dabei hatte ich anfangs ein schlechtes Gewissen - ich war ja nicht produktiv. Wenn ich Menschen davon erzähle, sagen Sie:
“Was du hast einen MP3-Player? Nimm doch dein Smartphone mit.”
Aber das funktioniert nicht – zumindest für mich nicht. Ich möchte nicht für andere sprechen, aber ich kann dem Reiz einfach nicht widerstehen, „produktiv“ zu sein. Selbst so etwas wie diesen Artikel schreibe ich gerade während eines Spaziergangs. Dank moderner Technik ist das ja problemlos möglich: Ich gehe über die Felder und diktiere meine Gedanken.
Aber ist das wirklich Erholung? Wie funktioniert Erholung überhaupt?
Wenn der Alltag uns ohnehin schon überfordert – warum erschaffen wir dann neue Aufgaben für uns? Auf unseren Smartphones sind drei bis zwölf Messenger-Apps installiert, und ständig erreichen uns Nachrichten, Erwartungen und Anliegen anderer Menschen. Wir arbeiten sie ab, als gäbe es nur ein Ziel: Ruhe zu haben.
Doch wie gesund ist es, die Welt ständig mit uns herumzutragen?
Cal Newport hat formuliert, dass der Mensch evolutionär nicht dafür gemacht ist, mit mehr als 12 bis 20 Individuen engen Kontakt zu halten. Unsere Smartphones aber ermöglichen uns dauerhaften Kontakt zu unzähligen Menschen – unabhängig davon, wie wichtig sie in unserem Leben tatsächlich sind.
Natürlich können wir unserem Partner oder unserer Partnerin jederzeit schreiben, was uns gerade durch den Kopf geht. Aber ist das wirklich so wertvoll? Ist es nicht schöner, sich beim Nachhausekommen über die gemeinsamen Erlebnisse des Tages auszutauschen?
Natürlich gibt es gute Argumente für die Vorteile digitaler Verbindung: Videotelefonie aus dem Urlaub, Fotos von aktuellen Aktivitäten – all das kann Nähe schaffen. Ja, wir können Teil des Lebens anderer sein. Die Frage ist nur: Mit wie vielen Menschen wollen wir das eigentlich wirklich? Oder besser noch: Mit wie vielen Menschen sollten wir das überhaupt sein?
Mit unseren Liebsten – ja. Mit einer Handvoll enger, ausgewählter Freunde – ja. Aber mit Arbeitskolleg*innen? Mit entfernten Bekannten? Mit Menschen, die wir kaum kennen?
Wie viel von unserer so unfassbar begrenzten Lebenszeit wollen wir darauf verwenden, dauerhaften Kontakt zu pflegen? Und: Ist das überhaupt echter sozialer Kontakt? Ist ein Herz-Emoji unter dem Bild eines neugeborenen Babys in einer WhatsApp-Gruppe wirklich ein Zeichen von Nähe?
Oder wäre echte Freundschaft nicht vielmehr, die frischgewordenen Eltern zu besuchen, ihnen unter die Arme zu greifen – und das Baby auch mal selbst auf den Arm nehmen zu wollen? Es ist schließlich eine herausfordernde Zeit.
Neulich habe ich mit meiner Partnerin darüber gesprochen, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die uns mit Informationen überflutet, während unsere Gehirne immer noch auf dem Stand von vor 10.000 Jahren sind. Das bedeutet: Eigentlich müssten wir Wege finden, um all diese Informationen sinnvoll zu filtern. Um Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen. Aber nicht im Sinne von: alle To-dos abhaken, jede E-Mail beantworten, jedem Menschen sofort zurückschreiben. Sondern Kontrolle im Sinne von: Technologie bewusst nutzen – und sie auch mal zurückhalten.
Technologie ist etwas Wunderbares. Sie kann uns helfen, unsere Produktivität zu steigern, unsere Ziele zu erreichen, Informationen zu finden, die wir mit unseren Kindern teilen wollen. Sie kann Antworten liefern auf Fragen, die uns beschäftigen. Ich möchte die positiven Seiten des Internets und der Smartphones auf keinen Fall kleinreden.
Aber: Wenn ich auf dem Spielplatz sitze oder im Bus stehe, sehe ich oft Menschen, die regungslos auf ihre kleinen, leuchtenden Maschinen starren. Und manchmal wünsche ich mir, ich könnte mit ihnen ins Gespräch kommen – weil sie interessante Kleidung tragen oder einfach, weil sie eine besondere Ausstrahlung haben. Doch möchte man wirklich jemanden in dem unterbrechen, was auf dem Smartphone offenbar gerade so wichtig ist?
Oder kennt ihr nicht auch diese Situation? Ihr wollt mit jemandem sprechen – und diese Person sagt: „Moment, ich mache nur kurz etwas Wichtiges zu Ende.“ Was wird dadurch eigentlich kommuniziert? Dass das, was gerade auf dem Handy passiert – eine Aufgabe, eine Nachricht, ein Gespräch – wichtiger ist als die Person, die real vor einem steht?
Ist das nicht traurig?
Konditionieren wir uns selbst nicht ständig durch das Abarbeiten von Aufgaben auf dem Smartphone, bis wir glauben, das sei der Normalzustand?
Ich weiß, ich klinge vielleicht wie ein alter Mann, der gegen „die böse Technologie“ wettert – aber das ist nicht mein Punkt. Mir geht es vielmehr darum, dass mir, gerade wenn ich mich selbst ablenken lasse, auffällt, wie viele Menschen körperlich zwar anwesend, gedanklich aber kaum noch da sind.
Warum schreibe ich überhaupt darüber?
Zum einen, weil es mich persönlich betrifft. Ich fühle mich zurückgesetzt, wenn mir jemand nicht antwortet, weil „etwas Wichtiges“ auf dem Handy erledigt werden muss. Zum anderen, weil ich nicht möchte, dass meine Töchter in einer Welt aufwachsen, in der Produktivität – ob nun gefühlt oder real – zum höchsten Maßstab wird. Eine Welt, in der reale, anwesende Menschen hintenangestellt werden, weil das Smartphone immer Priorität hat.
Auch mir passiert das. Meine Kinder kommen zu mir, weinen vielleicht, wollen etwas erzählen – und ich sage: „Moment, ich will das nur kurz fertig machen.“ Vielleicht recherchiere ich gerade etwas auf dem Sofa. Und doch: In der Zeit vor dem Smartphone, in der ich groß geworden bin, hätte das einfach nicht stattgefunden. Damals war ich mit Freunden unterwegs oder bei der Familie, und in Notfällen musste ich eine Telefonzelle suchen oder jemanden fragen, ob ich telefonieren darf.
Selbst in der Zeit der ersten Handys waren körperliche und gedankliche Anwesenheit noch weitgehend deckungsgleich.
Heute ist es schwieriger. Wir treffen uns mit Menschen – in der Kneipe, bei ihnen zu Hause – und das erste, was passiert: Das Smartphone wird auf den Tisch gelegt, damit man es jederzeit im Blick hat. Es vibriert. Man wirft einen kurzen Blick darauf. Ist das wichtig? Muss ich antworten? Und wenn ja, unterbreche ich eben kurz das Gespräch.
Aber ist das wirklich richtig?
Manchmal – nicht immer, aber immer öfter – frage ich mich, ob wir uns durch unsere ständige Hyperkonnektivität nicht langsam entkoppeln. Ob wir nicht vielmehr dis-connecten, statt verbunden zu sein.
Natürlich gibt es Menschen, für die diese Technologien ein Segen sind – gerade wenn sie isoliert sind. Sie können Kontakt zu Verwandten halten, zu Freunden, wenn sie welche haben. Und doch: Die Form sozialer Interaktion hat sich im Vergleich zu dem, was ich in meiner Jugend und als junger Erwachsener erlebt habe, grundlegend verändert.
Und irgendwie – vielleicht nur unterbewusst – finde ich das schade.